Canonische Veränderungen

Die Canonischen Veränderungen über ein Weihnachtslied (auch Canonische Veränderungen über Vom Himmel hoch) sind eine fünfsätzige Orgelkomposition, die Johann Sebastian Bach 1746/1747 schrieb und 1748 im Druck herausgab (BWV 769). Das Werk ist ein typisches Beispiel des kontrapunktischen Spätstils, den Bach in seinen letzten Lebensjahren entwickelte.

Entstehung und Rezeption

Die Canonischen Veränderungen entstanden als Jahresbeitrag für Lorenz Christoph Mizlers Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften. Jedes Mitglied dieses Vereins war gehalten, bis zu seinem 65. Lebensjahr einmal jährlich einen musiktheoretischen Aufsatz im Druck zu veröffentlichen. Bach konnte stattdessen jeweils eine Komposition einreichen, die einen entsprechenden theoretischen Anspruch hatte. Sein Antrittsbeitrag 1747 waren die Canonischen Veränderungen. 1748 reichte er das Musikalische Opfer ein und für 1749 hatte er höchstwahrscheinlich die Kunst der Fuge geplant. Danach wäre er wegen seines Alters von weiteren Beiträgen entbunden gewesen.

Die vierbändige Ausgabe der Orgelwerke Bachs, die der Thomaskantor Johann Gottfried Schicht 1803–1806 herausgab, umfasste auch die Canonischen Veränderungen. Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Johannes Brahms besaßen je ein Exemplar dieser Ausgabe. Mendelssohn nahm im Eröffnungssatz seiner Kantate Vom Himmel hoch (1831) Bezug auf die absteigenden Notenfolgen der ersten Bach-Variation.[1] Igor Strawinsky hat die Komposition 1956 für kleinen Chor und großes Orchester bearbeitet unter weitgehender Beibehaltung des originalen Notentexts.[2]

Fassungen

Titelblatt

Der Erstdruck trägt den Titel

Einige canonische Verænderungen / über das / Weynacht-Lied: / Vom Himmel hoch da / komm ich her. / vor die Orgel mit 2. Clavieren / und dem Pedal / von / Johann Sebastian Bach / Königl: Pohl: und Chur-Sæchß: Hoff Compositeur / Capellm. u. Direct. Chor Mus.Lips. / Nürnberg in Verlegung Balth: Schmids / N. XXVIII

Später überarbeitete Bach das Werk zweimal. Die letzte Fassung liegt im Autograph vor. In dieser Fassung schob Bach den Schlusssatz zwischen den zweiten und dritten Satz ein und änderte so die gesamte Struktur des Werkes. Da der ursprüngliche Schlusssatz den kontrapunktischen Höhepunkt bildet, entstand nun aus einer auf Steigerung angelegten Satzfolge eine zentralsymmetrische Anordnung.

Die Überschrift des Autographs lautet

„Vom Himel hoch, da kom ich her, per Canones. à 2 Clav: et Pedal. di J.S.Bach“

Die späte Umstellung der Sätze ist auch in der langjährigen Auseinandersetzung der Bearbeiter um die Satzreihenfolge der Kunst der Fuge häufig als Argument herangezogen worden.

Sätze

(Reihenfolge und Beschriftung nach dem Erstdruck)

  • Variatio 1. 1. in Canone all’ Ottava, à 2. Clav: et Pedal. (12/8)
  • Variatio 2. Alio Modo in Canone alla Quinta à 2 Clav: et Pedal. (C=4/4)
  • Variatio 3. Canone alla Settima / Cantabile. (C)
  • Variatio 4. à 2 Clav. et Pedal. per augmentationem. in Canone all’ottava. (C)
  • Variatio 5. L'altra Sorte del’ Canone all’ rovercio, 1.) alla Sesta, 2) alla Terza, 3) alla Seconda, è 4) alla Nona. (C)

Variatio 1

Im Rhythmus einer an den Schlusssatz des Dritten Brandenburgischen Konzerts erinnernden stilisierten Gigue vollführen die beiden Manualstimmen einen zweistimmigen Kanon im Oktavabstand, in den das Pedal den Choral – notiert im 4/4-Takt (C) – als ruhige (Tenor-)Gegenstimme zu den Sechzehntelnoten der Kanonstimmen zeilenweise einfügt.

Variatio 2

Der zweite Satz ist ähnlich angelegt wie der erste, ist jedoch ein Kanon in der Unterquinte. Das motivische Material der Oberstimmen ist deutlich von der ersten Choralzeile abgeleitet. Anders als im vorigen Satz ist die Funktion des Cantus firmus, der wiederum im Pedal liegt, diesmal der einer Bassstimme für den Gesamtsatz.

Variatio 3

Cantabile ist der Satz überschrieben und stellt gleich von Beginn an die zweite Stimme mit einer ausdrucksvollen Gesangslinie in den Mittelpunkt. Den im Titel angekündigten Kanon in der Septime führen zwei im Autograph im Alt- und Bassschlüssel notierte Stimmen aus; sie verwenden dazu ein aus dem Themenkopf entwickeltes Motiv und etablieren so eine Schicht aus gleichmäßig und ununterbrochen laufenden Achteln, wobei die Altstimme bisweilen die Gesangslinie kreuzt. Über diesem Stimmengeflecht fügt die Oberstimme die Choralmelodie zeilenweise hinzu.

Variatio 4

Die Oberstimme beginnt mit einem weit ausgreifenden Thema, das sofort eine Oktave tiefer im Canon per augmentationem, also in der Vergrößerung, beantwortet wird. Dazwischen bewegt sich eine freie Stimme und füllt den Satz harmonisch, rhythmisch und kontrapunktisch auf. Schon nach kurzer Zeit entsteht ein dichtes Geflecht, in dem der eigentliche Kanon für den Hörer kaum mehr zu verfolgen ist. Das Pedal setzt das Choralthema als Cantus firmus im Tenor hinzu. Da die höhere Kanonstimme doppelt so schnell ist wie die tiefere, kann sie in der zweiten Hälfte des Satzes frei und virtuos geführt werden und prägt damit den Gesamteindruck des Satzes. Währenddessen führt die tiefere Stimme den Kanon zu Ende. Im Takt 39 erklingen in der zweiten Stimme die Töne b, a, c', h.

Variatio 5

In diesem Satz verwendet Bach das Choralthema selbst als kanonisches Material. Die Kanontechniken und die Verarbeitung der Choralmelodie erinnern deutlich an die Verschiedenen Canones, die Bach in sein Handexemplar des Erstdruckes der Goldbergvariationen eingetragen hat.

Das Thema wird mehrfach durchgeführt: Über einem thematisch ungebundenen Bass spielen zunächst die beiden Oberstimmen einen zweistimmigen Spiegelkanon in der Sext, der anschließend im doppelten Kontrapunkt, also mit vertauschten Stimmen als Kanon in der Terz wiederholt wird. Dann setzen Bass und Tenor mit einem ähnlichen Kanon in der Sekunde ein, hier mit hinzugefügter Mittelstimme; an dieser Stelle beginnt der Sopran (forte) mit ausladenden virtuosen Figuren; auch dieser Abschnitt wird mit Stimmtausch wiederholt. Die Schlusstakte bilden einen großartigen und in Bachs Gesamtwerk einzigartigen kontrapunktischen Höhepunkt, indem er in den verschiedenen Stimmen mehrere Choralzeilen in drei verschiedenen Tempi sowohl original als auch in Umkehrung übereinander schichtet. Im Schlusstakt erklingen auf zwei Stimmen verteilt die Töne b', a' / c", h'.

Literatur

  • Gregory G. Butler: J. S. Bachs Kanonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (BWV 769). Ein Schlußstrich unter die Debatte um die Frage der „Fassung letzter Hand“. In: Bach-Jahrbuch 2000, S. 9–34.
  • Werner Neumann (Hrsg.): Johann Sebastian Bach. Canonische Veränderungen über Vom Himmel hoch da komm ich her BWV 769. Faksimile des Autographs und des Erstdrucks. Leipzig 1986; siehe darin auch die Einleitung Werner Neumanns, S. 5–8.
  • Gerd Zacher: Canonische Veränderungen. In: Musik-Konzepte 17/18. München 1981, ISBN 3-88377-057-4. (Dieser Aufsatz ordnet jedes Auftreten eines Themas einer seiner fünfzehn Strophen zu und leitet aus dem Strophentext die Verwendung rhetorischer Figuren ab.)

Weblinks

Commons: Canonische Veränderungen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Russell Stinson: The Reception of Bach’s Organ Works from Mendelssohn to Brahms. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0-19-517109-8.
  2. Joseph N. Strauss: Recompositions by Schoenberg, Stravinsky and Webern. In: Musical Quarterly. Bd. 72/3, 1986, S. 301–427.
VD
Kompositionen für Orgel, Klavier und Laute von Johann Sebastian Bach
Orgel

Fuge in g-Moll BWV 131a (unsicher) (en) - Sonaten BWV 525–530 - Präludium und Fuge D-Dur BWV 532 (en) - Fantasia und Fuge c-Moll BWV 537 (en) - Toccata und Fuge d-Moll („Dorische“), BWV 538 - Toccata und Fuge F-Dur BWV 540 - Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 (en) - Präludium und Fuge a-Moll BWV 543 (en) - Präludium und Fuge e-Moll BWV 548 (en) - Acht kleine Präludien und Fugen, BWV 553–560 (unsicher) (en) - Fantasie und Fuge c-Moll BWV 562 (en) - Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 - Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 - Präludium (Toccata) und Fuge E-Dur BWV 566 (en) - Fantasie G-Dur BWV 572 - Fuge g-Moll BWV 578 (en) - Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 - Concertos BWV 592–597 (en) - Orgelbüchlein BWV 599–644 - Schübler-Choräle BWV 645–650 - Achtzehn Choräle von verschiedener Art BWV 651–668 (Leipziger Choräle) - Sei gegrüßet, Jesu gütig BWV 768 (Choralpartita) (en) - Canonische Veränderungen über Vom Himmel hoch BWV 769 - Neumeister-Sammlung BWV 1090–1120 (en) - Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 1128 (Choralfantasie) (en)

Klavier

Aria variata alla maniera italiana (en) - Capriccio über die Abreise des sehr beliebten Bruders - Chromatische Fantasie und Fuge - Concertos (en) - Englische Suiten - Französische Suiten - Goldberg-Variationen (Diskographie (en), Gould-Einspielung) - Inventionen und Sinfonien - Italienisches Konzert - Ouvertüre im französischen Stil, BWV 831 (en) - Partiten (en) - Sechs kleine Präludien (en) - Wohltemperiertes Klavier, BWV 846–893 (Teil I: I/1 • I/2 • I/3 • I/4 • I/5 • I/6 • I/7 • I/8 • I/9 • I/10 • I/11 • I/12 • I/13 • I/14 • I/15 • I/16 • I/17 • I/18 • I/19 • I/20 • I/21 • I/22 • I/23 • I/24 Teil II: II/1 • II/2 • II/3 • II/4 • II/5 • II/6 • II/7 • II/8 • II/9 • II/10 • II/11 • II/12 • II/13 • II/14 • II/15 • II/16 • II/17 • II/18 • II/19 • II/20 • II/21 • II/22 • II/23 • II/24)

Laute

Suite g-Moll, BWV 995 (en) - Suite e-Moll, BWV 996 (Bourrée) (en) - Präludium, Fuge und Allegro in Es-Dur, BWV 998 (en) - Präludium c-Moll, BWV 999 (en) - Fuge g-Moll, BWV 1000 (en)

gemischte
Sammlungen

Clavierübung III: Präludium und Fuge Es-Dur, BWV 552, Choralbearbeitungen, BWV 669–689, Duette, BWV 802–805 - Concerto-Transkriptionen, BWV 592–596 und 972–987 (en) - Klavierbüchlein W. F. Bach - Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach - Zwölf kleine Präludien (en)